Brief an die Gemeinde zum 6. Sonntag der Osterzeit

Brief an die Gemeinde zum 6. Sonntag der Osterzeit

Liebe Kinder und Jugendliche, liebe Schwestern und Brüder!

 

Es gibt eine schöne Legende, in der ein König sein Lebensende spürte. Er ließ seine Gelehrten holen und trug ihnen auf, sie sollen ihm so kurz wie möglich das Wesentliche des christlichen Glaubens zusammenfassen, damit er sich gut auf seinen Tod vorbereiten könne.

Darauf kam der erste Gelehrte und brachte ihm zehn dicke Bücher, die das Wesen des Christentums beschrieben. „Das ist mir zu viel“, sagte der König. „Bis ich diese Bücher alle gelesen habe, bin ich längst gestorben.“

Da kam der zweite und brachte nur ein einziges Buch: Die Bibel. Aber diese 1500 Seiten waren dem König auch zu viel.

Da trat der dritte Gelehrte heran und sagte: „Das Wesen des Christentums kann in einem einzigen Satz zusammengefasst werden:

„Liebt einander, so wie Jesus euch geliebt hat.“

Mit dieser Antwort war der König zufrieden, denn nun wusste er, wie er sich auf seinen Tod vorbereiten soll. Das ist eine schöne Legende, die versucht, das Wesen des christlichen Glaubens auf den Punkt zu bringen.

Historisch gesichert ist allerdings eine Aussage der heiligen Mutter Teresa von Kalkutta. Als sie 1979 das erste Kloster ihrer Schwestern der Nächstenliebe in Deutschland gründete, antwortete sie auf die Frage eines Journalisten, was sie denn in diesem Kloster tun wolle, Folgendes:

„Nichts anderes als für die Menschen da sein. Wissen Sie, früher glaubte ich, belehren zu müssen. Inzwischen habe ich gelernt, dass unsere Aufgabe einfach darin besteht: zu lieben.“

Der Abschnitt aus dem Johannesevangelium, den wir am 6. Sonntag der Osterzeit lesen, bestätigt genau das: „Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe … Dies trage ich euch auf: liebt einander.“ Immer wieder haben christliche Lehrerinnen und Lehrer dieses entscheidende Wesensmerkmal unseres Glaubens in Erinnerung gerufen, vor allem dann, wenn sich die Christinnen und Christen in andere vermeintlich so wichtige Dinge verzettelten.

Der heilige Franz von Sales, der Patron meines Ordens, war einer davon: „Die Liebe bestimmt den Wert unseres Tuns“ ist nur ein Satz aus seinem umfangreichen Werk seiner Liebestheologie. Ein weiteres Wort: „Leben heißt bei Gott nichts anderes als lieben.“ Oder: „Setze der Liebe keine Schranken.“ „Die Liebe ist Ziel, Vollendung und Krönung des Weltalls.“ Liebe ist ein großes Wort – und wird daher auch sehr oft missverständlich gebraucht und missbraucht. Deshalb ist es gut, dieses Wort in viele kleine Teile herunterzubrechen, damit wir verstehen, was damit wirklich gemeint ist.

Franz von Sales nennt diese vielen kleinen Teile der Liebe die „kleinen Tugenden“, die wir in unserem Alltag verwirklichen sollen.

Mit diesen „kleinen Tugenden“ wird dann das große Liebesgebot Jesu auch griffig und konkret. „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe“, das bedeutet konkret: Miteinander und Füreinander statt Gegeneinander. Rücksicht aufeinander, statt das Recht des Stärkeren. Es bedeutet Demut, Sanftmut, Geduld, Herzlichkeit, Dankbarkeit, Vertrauen, Barmherzigkeit und Zuversicht, Humor und Bereitschaft zur Vergebung. Und noch viele, viele kleine Dinge mehr.

Mit diesen kleinen Tugenden, mit diesen kleinen Schritten treten wir in die großen Fußstapfen Jesu ein und folgen ihm zum großen Ziel der Liebe, die er gelebt und uns zu leben aufgetragen hat. Amen.

Ich wünsche euch/Ihnen einen gesegneten Sonntag.

Ihr Pater Alex

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